Klaviersonate op. 7

Dimensionen von Material und Bedeutung im späten 18. Jahhundert

Ein hermeneutischer Ansatz

Ludwig van Beethoven: Klaviersonate op. 7 (2. Satz)

Musikalische Hermeneutik steht bis zur Stunde in einem eher schlechten Ruf. Arnold Scherings berüchtigte Methode, Beethovens Werke als Musik über verschwiegene Programme Shakespearescher oder Schillerscher Provenienz zu entschlüsseln, genießt kaum noch Sympathien. Der Grundgedanke Hermann Kretzschmars, des Begründers der musikalischen Hermeneutik, die Logik der Abfolge von Affektgehalten durch bildhafte Umschreibungen zu erweisen, gilt mehr oder weniger noch immer als “greuliche Musikführerweis”[1]. Kretzschmar besaß ein spezifisches Verständnis der Aufgabe einer Hermeneutik: außermusikalische Deutung, mit dem theoretischen Rückhalt an der Tradition der Affektenlehre. Carl Dahlhaus befand daher nüchtern, der Begriff der musikalischen Hermeneutik sei durch Kretzschmar geprägt und zugleich korrumpiert worden [2], und in jüngster Zeit mehren sich Versuche, den Begriff der Hermeneutik “aus seinen Verkrustungen zu lösen” [3].

Dennoch sollte man Kretzschmars und Scherings Schriften nicht zum Anlaß nehmen, auf außermusikalische Deutungen von Instrumentalmusik, mit der sich kein explizites Programm verbindet, nunmehr ganz zu verzichten. Die Auffassung von Musik als Botschafts-Trägerin [4] erweist zu häufig ihre Legitimität. Hermeneutische Ansätze können zwar gerade im Falle der Auslegung reiner Instrumentalmusik leicht mit anerkannten Grundforderungen von Wissenschaftlichkeit (Objektivität und Nachprüfbarkeit) in Konflikt geraten. Doch die Gefahren eines lediglich subjektiven Verstehens lassen sich durch geeignete methodologische Rahmenbedingungen minimieren: zum Beispiel – wenn auch nicht für jedwede Musik – durch Methoden der Topos- und Symbolforschung. Musikalische Toposforschung geht im Grundsatz auf niemand anderen als auf Arnold Schering zurück. Dessen Mißgriffe bei der Deutung von Werken Beethovens sollten nicht vergessen machen, daß sein Ansatz der Symbolforschung sowohl analytisch-hermeneutisch fruchtbar als auch wissenschaftsgeschichtlich weitreichend war. Schering maß der Intuition im Verfahren des Musikverstehens eine erhebliche und, wie sich gezeigt hat, für wissenschaftliche Reflexion eher unverträgliche Rolle bei. Sein Denken in musikalischen Symbolen aber läßt eine Objektivierung der Urteile zu, die dem Anspruch der Nachvollziehbarkeit genügt.

Außermusikalische Gehalte reiner Instrumentalmusik anhand der Ermittlung musikalischer Symbole – also ohne Stütze an anderen Zeugnissen – entschlüsseln zu wollen, enthält zweifellos eine innere Problematik. Die Möglichkeit des Irrtums läßt sich durch methodisches Vorgehen vermindern, doch nicht ausschließen. Eine `verstehende´ Geisteswissenschaft setzt sich zwar ständig der Gefahr aus, falsch zu verstehen, doch tendiert sie dazu, die Resultate ihrer Verstehens-Prozesse möglichst breit zu fundieren. Ferner steht die Bedeutung musikalischer Topoi mit deren Identifizierung noch keineswegs fest. Sodann prägt die Gattung der Klaviersonate, um die es in unserem Zusammenhang primär geht, nicht die gleichen Traditionen aus wie etwa die Messen- oder Oratorien-Komposition. Dennoch, diese Einwände bezeichnen nicht die Zurückweisung der Methode, sondern eine Aufgabe, die es innerhalb ihrer Anwendung zu lösen gilt. Topos- und Symbolforschung sollte nach historischen Kontexten und deren Relevanz für den konkreten Fall fragen. Für die Musik seit dem späteren 18. Jahrhundert bedeutet dies, daß Formeln und andere Bedeutungsträger nicht etwa so zu werten sind, als seien sie identisch mit den rhetorischen Figuren des Barockzeitalters. Sofern ein Komponist wie Ludwig van Beethoven überhaupt formelhafte Elemente benutzte, interessiert kompositionstechnisch vor allem deren Integration in den Tonsatz-Zusammenhang, ästhetisch aber der Bezug zu einem Musikdenken, dem der Gebrauch von Formeln tendenziell zuwiderlief: der Forderung nach Individualität, nach musikalischem Charakter und persönlichem Ausdruck. Nicht um das bloße Auffinden barocker Figuren (von denen nicht einmal feststeht, ob sie in diesem Sinne überhaupt historisch zulänglich herleitbar sind) bzw. nachbarocker Formeln ist es zu tun, sondern um den Kontext intentional expressiver Musik.

Ludwig van Beethovens Largo con gran espressione, Satz 2 seinerKlaviersonate Es-Dur op. 7, hat bislang nicht in besonderer Weise zu hermeneutischen Versuchen herausgefordert. Die Außergewöhnlichkeit einzelner Kunstmittel, sowohl diastematischer als auch harmonischer und syntaktischer Art, und die auffällig häufige Verwendung musikalischer Formeln legen einen solchen Schritt gleichwohl nahe. Man könnte einwenden, warum ausschließlich der langsame Satz der Klaviersonate Gegenstand des hermeneutischen Versuchs sein sollte. Doch gerade Beethovens Gesamtwerk schließt es nicht aus, daß ein einzelner Satz des Sonatenzyklus gleichsam `für sich´ steht, auch in der Dimension des Außermusikalischen; das Largo e mesto aus op. 10 Nr. 3 – der Seelenzustand eines Melancholischen, welcher ansonsten keinen direkten Bezug zu den anderen Sätzen besitzt [5] – liefert ein anschauliches Beispiel.

Verwertbare Äußerungen Beethovens zur Klaviersonate op. 7 fehlen; bisherige Deutungsversuche haben daher zumeist zu Spekulationen ihre Zuflucht genommen. Eine zeitgenössische Stellungnahme bescheinigte dem langsamen Satz beispielsweise “starke Leidenschaft”“wiewohl sie durch Momente des ruhigeren Gefühls unterbrochen wird, und endlich sich in stille Resignazion [sic!] aufzulösen scheint”. [6]. Paul Bekker hielt das Largo für einen “Gesang von so inniger Beredsamkeit, von […] gewaltiger Steigerung aus erhabener Ruhe zu schneidend heftigen Affekten und wieder zurück zu tiefem, wunschlosem Frieden”, um dann mit Bezug auf den `wunschlos-friedlichen´ Satzschluß hinzuzusetzen: das Largo sei eine “Elegie, ein Psalm, aus Seeleneinsamkeit heraus der Welt zugesungen und mit dem Ausblick auf die Einsamkeit wieder abgeschlossen” [7]. Wunschloser Friede konnte demnach ebenso aus dem Satzganzen herausgehört werden wie Einsamkeit oder Resignation. Arnold Schering hat hingegen zur Klaviersonate op. 7Beethovens keinen `Schlüssel´ zu finden vermocht, aber die Vermutung liegt nicht allzu fern, daß er ihn in den Beständen der Weltliteratur gesucht hat. Die Strukturanalyse, deren Zentralbegriff `das Material´ ist [8], vermied hermeneutische Unternehmungen. Andere Forscher, etwa Jürgen Uhde [9], bedienten sich eines methodologischen Eklektizismus – das Wort im unverächtlichen Sinne genommen -, um die Pluralität von Verstehensmöglichkeiten darzustellen.

Man mag den Erkenntniswert rein technischer Beschreibungen anzweifeln: Tatsache ist jedenfalls, daß sie im Falle des Beethoven-Largos dazu beitragen, objektive Grundlagen für die Dimensionen musikalischer Botschaften zu errichten. In diesem Sinne seien zunächst die Gegebenheiten der Werkstruktur selbst dargestellt. Das Largo erfüllt mit seiner dreiteiligen A-B-A´-Form mit abschließender Coda die Erwartungen an langsame Sätze von Klaviersonaten (A: T. 1, B: T. 25, A´: T. 51, Coda: T. 74). Im A-Teil komponiert Beethoven den Grundriß einer dreiteiligen Liedform als Hauptthema (T. 1-8, mit pausendurchsetztem Vordersatz und einem Nachsatz in stufenweisem Fortschreiten, legato in gleichförmigen Vierteln, dominantischer Mittelteil ab T. 9, Reprise ab T. 15). Mit T. 17 geht Beethoven – anders als in T. 3, aber unter Verwendung von Umkehrungen der Baßchromatik und Diastematik der Oberstimme – in sequenzierende Bewegung über, und ab T. 20 schreibt er eine syntaktische Gruppe, die von der Pausendisposition der Takte 1-4 ebenso zehrt wie von der Melodik des Nachsatzes T. 5-8 (T. 20ff: cis-d-e und e-f-g[…] g-a-g-fis usw. vergleiche die Oberstimme T. 5ff). Beethoven komponiert in T. 20 eine Trugschluß-Verzögerung: die zweiten Hälften der Takte 19 und 23 sind nahezu identisch, so daß der erste Großteil ohne weiteres nach T. 18/19 mit T. 23 fortsetzen könnte; diese Konstellation macht besagte Taktgruppe zu einer Interpolation. Dem intern komplex strukturierten Hauptthemen-Teil folgt ein Mittelteil, der sich gegensätzlich zu ersterem verhält. Der Übergang von C-Dur nach As-Dur, die Mediantik zweier Durtonarten, ist in frühen Beethoven-Sonaten eher ungewöhnlich; Relationen wie c-Moll/As-Dur existieren häufiger. Verbindende Elemente des musikalischen Materials aber überdauern den Ruck nach As-Dur und mildern die gleichwohl intendierte Gegensätzlichkeit zwischen A und B: so die Chromatik (T. 26/27 und 34/35, vergleiche T. 17/18 und 3/4), Punktierungen der Rhythmik (z. B. T. 26 wie T. 19 und 23, letztlich also T. 2) und einige diastematische Anklänge (T. 25/26 Umkehrung von T. 2 Oberstimme). Beethoven konzipiert den B-Teil zudem wie A dreiteilig; er läßt ihn in T. 33 reprisenartig einsetzen, allerdings nicht in As-Dur, sondern in Des-Dur und halbschlüssig ausmündend (T. 36/37). Die nachfolgende Baßchromatik g-fisbzw. as-g-fis-f kann unschwer als Ableitung aus früheren chromatischen Wendungen (T. 3/4) verstanden werden. In T. 42 begegnet, in verfremdend hoher Lage, eine Scheinreprise des Hauptthemas in B-Dur und ab T. 51 der reguläre Einsatz des nur unwesentlich veränderten A-Teiles.

Der Schlußteil des langsamen Satzes übersteigt den Status einer Coda als eines bloßen Anhanges bei weitem. Carl Dahlhaus hat bereits dessen synthetisierenden Charakter (als Beispiel für die Funktionen von Coda-Teilen außerhalb der Sonatenform, die zum Teil diejenigen von Sonatensatz-Durchführungen übernehmen) hervorgehoben [10]. Synthese-Charakter liegt in der Geschichte der Chromatik, mehr noch aber in der Angleichung des B-Materials an den Hauptthemen-Komplex, wie sie in T. 79 aufscheint, begründet. Die Konstellation Quarte-Sekundfall (T. 74/75), rückbezüglich auf T. 25, mutiert schon im nächsten Takt zur analogen, aber rhythmisch neugefaßten Intervallfolge Terzanstieg-Sekundfall, um dann ab T. 79 – in dieser Form und mit identischer Rhythmik – Eingang in die Umgestaltung des Hauptthemas zu finden:

Nb. 1.: Beethoven Largo, T. 74-80 (motivischer Auszug):

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Zugleich überformt dieser motivische Prozeß die Spannungschromatik, welche in T. 25 oder T. 34ff noch exponiert in der Oberstimme lag. Die abschließende Synthese vollzieht sich unter ungleichgewichtigem Vorzeichen: Bezogen werden nicht die beiden Komplexe A und B `aufeinander´, sondern eher einseitig B auf das dominante A. Denn Beethoven führt die Synthese in der Tonart C-Dur herbei, und die syntaktische Struktur des Hauptthemas, welches durch motivische Elemente des B-Teiles in T. 79 neugestaltet wird, bleibt prinzipiell übergeordnet. Synthese als ein `Hereinnehmen´, Absorbieren des vormals Gegensätzlichen wäre daher der angemessene Ausdruck.

Der formale Zusammenhang entspricht der Formidee, zunächst Separiertes nachträglich aufeinander zu beziehen [12]. Vielleicht verbirgt sich hinter dieser Technik in Beethovens Klaviersonate op. 7 jedoch mehr als nur eine Formidee. Die Idee des `Hereinnehmens´ einer ursprünglich fremden Sphäre in die eingangs exponierte – anstatt etwa diejenige des Ausbruchs oder Durchbruchs, wozu später mit metaphysischer Tendenz Brucknersche Symphonik neigte – sollte Reflexionen veranlassen, ob lediglich der Vorgang als solcher oder darüber hinaus eine implizite außermusikalische Bedeutung gemeint sein könnte. Denn die Formidee des Satzes bildet den Rahmen für eine unabweisbar dichte Häufung musikalischer Mittel, die auch im Kontext verschiedener Symboltraditionen stehen. Die objektiven Befunde mögen nun hinleiten, den Satz noch einmal zu untersuchen. Wenn es richtig ist, daß `Verstehen´ ein Prozeß ist: ein Vorgang der Annäherung, eine kontinuierliche Durchdringung, so bietet es sich methodologisch an, in mehreren Schüben der Analyse vorzugehen. Das Verfahren des `Umkreisens´, welches dem hermeneutischen Zirkel entspricht, liegt insbesondere nahe, wenn das Werkganze musikalische Details integriert, die auf außermusikalische Gehalte hindeuten, jedoch erklärende Zeugnisse von seiten des Komponisten fehlen.

Am Hauptthema des langsamen Satzes fällt die Tendenz zur Öffnung und harmonischen Innenspannung auf: so schon in T. 1, dann in T. 3 (Ebene der Doppeldominante) und 4. Die tonikale `Antwort´ in T. 2 auf die Öffnung zuvor wirkt dagegen eher schwach, da sie in Terzlage auf schlechter Zeit eintritt. Ständige Unterbrechungen durch Pausen tun ein übriges, den Eindruck eines geregelten diastematischen Kontinuums (obwohl pausenübergreifend mit e-f-g-d-e eine melodische Linie zweifellos zugrundeliegt) zu verwischen. Erst der Nachsatz T. 5ff löst den Charakter des Suchens durch einen choralartig-`hymnischen´ Melodiebogen ab, der Sprünge durch Stufengang, Pausen-Zerschneidung durch ein Viertel-Kontinuum, Chromatik durch Diatonik ersetzt. Für sich genommen würde man die eher konventionelle Melodik T. 5-8 freilich kaum als hymnisch bezeichnen, doch in der Nachbarschaft des musikalischen Radebrechens T. 1-4 wirkt sie geradezu gravitätisch und weihevoll. Hymnik als musikalischer Ausdruckscharakter bildet also das Ziel des Suchens und Fragens im Vordersatz (zumal auch Ableitungsverhältnisse der Oberstimme T. 5ff zu T. 1ff bestehen). Indes, das Offene und Suchende erweist sich nur als vorläufig suspendiert, denn wenig später kehrt es umso nachdrücklicher wieder: nicht so sehr in der Dominantebene ab T. 9, die eher der Tradition dreiteiliger Bogenformen zuzurechnen ist, sondern in der Potenzierung des Gedankens der Öffnung durch Sequenz ab T. 17 und in deren etwas gewaltsamem Zurückzwingen nach C-Dur in T. 19. Und dann kommt es zu einem besonders großen musikalischen `In-Frage-Stellen´: Die Takte T. 20ff, die syntaktische Interpolation, sind zugleich eine destruierte Variante von T. 5ff, eine Negation jener hymnusartigen Passage, die den ersten Taktkomplex beschloß. Natürlich bedeutet der Trugschluß in T. 20 zugleich einen Ausbruch aus Konventionalität, und dies ist nicht weniger signifikant als der tendenzielle Fragecharakter des ersten Achttakters. Fragwürdig geworden aber ist, nach dem verwendeten Material geurteilt, jener eingangs exponierte musikalische Hymnus. Der gesamte A-Teil erhält somit trotz seines übergreifenden Zusammenhanges und seiner schließenden Formeln den Charakter des eher Disparaten, des Stockens. Dies provoziert die Frage, wonach Beethoven seine Musik eigentlich `suchen läßt´: nach der für langsame Sätze charakteristischen Kantilene, nach der Möglichkeit ausschwingender Melodie? – und danach, was diese bei Beethoven in aller Regel bedeutet: nach dem Weihevollen, gar Erhabenen? Die Antwort darauf gibt der A-Teil selbst nicht.

Dem syntaktischen Suchen und Fragen des Hauptthemas schließt sich, als `Ausweg´ sozusagen, der As-Dur-B-Teil an. Dieser prägt tonartlich, wie bereits gesagt, eine Gegenwelt aus. Die Relation C-Dur zur nicht leitereigenen großen Untermediante entspricht, nach einem Begriff Erich Schenks, einem besonderen Fall des harmonischen Versunkenheitstopos, dem `Hinwegwischen´ einer Tonart durch eine andere, entgegengesetzte [12]. Was der Komponist gemeint haben könnte, geht aus der Tatsache des Wegführens aus der einen in eine völlig andere tonartliche Ebene noch nicht hervor. Vorab läßt sich lediglich sagen, daß Beethoven mit dem B-Teil eine musikalische (und vielleicht außermusikalische) Sphäre betritt, die auf irgendeine Weise einen Bruch zu A mit sich bringt.

Die Tonart As-Dur verbindet sich bei Beethoven jedoch auch mit bestimmten Vorstellungen – Konnotationen des Weihevollen, ja Erhabenen. Als Beispiele ließen sich eine Vielzahl von As-Dur-Sätzen oder Werkteilen mit As-Dur-Tonartenwahl benennen, in den früheren Klavierkompositionen etwa der langsame Satz aus der Klaviersonate op. 10 Nr. 1 und vor allem derjenige aus der Grande Sonate Pathétique op. 13. Ferner deutet der Symbolgehalt, den Mediantik bei Beethoven (und, wie zu vermuten, unter seinem Beispiel auch im 19. Jahrhundert) zum Teil erhielt, gar auf religiöse Implikationen. Relationen wie G-Dur zu Es-Dur oder, wie im Falle des Largo aus op. 7, C-Dur zu As-Dur verweisen in Beethovens Vokalmusik des öfteren auf Gott oder das Göttliche [13]. Die Medianten-Beziehungen im Schlußsatz der Neunten Symphonie – bei “und der Cherub steht vor Gott, vor G o t t”, eine A-Dur-F-Dur-Progression (F-Dur in T. 330) – und die G-Dur/Es-Dur-Wendung in Beethovens Gellert-Lied Die Ehre Gottes aus der Natur op. 48 Nr. 4 (Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre, T. 18 nach “göttlich Wort”) können beispielhaft genannt werden. (Die Stelle “ihr göttlich Wort” des letztgenannten Beispieles enthält allerdings insofern eine Unsicherheit, als die dem Es-Dur-Feld vorgelagerte G-Ebene eher g-Moll als G-Dur zu sein scheint; andererseits aber soll ein Unisono der Stimmen den Klang g-Moll nach “Mensch”offenkundig vergessen machen.) Manche Differenzierung in der semantischen Besetzung ist sogar darüber hinaus noch möglich: Untermedianten begegnen im Bedeutungskontext `Erscheinung bzw. Erkenntnis Gottes´, `Berührung mit Gott bzw. göttlichem Wesen´, Obermediantik jedoch meint, sofern sie überhaupt auf Göttliches verweist, eher dessen Kraft, Stärke, Macht, auch seine lichthafte Existenz. Beispielsweise komponiert Beethoven bei “Ihn r ü h m e t der Erdkreis” seines Gellert-Liedes op. 48 Nr. 4 einen Übergang von C-Dur nach E-Dur (T. 10/11). Mag dieses Beispiel im Rahmen Beethovens auch ein seltener Fall sein: in der Folgezeit entwickelte sich mediantische Harmonik zum Topos. (Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt: Agathes Kavatine aus Carl Maria von Webers Freischütz; Mediantik As-Dur/C-Dur als Licht-Topos zu den Worten “Dein Auge ewig rein und k l a r”in T. 22/23 der Kavatine, Kl. A. S. 105, die den Lichteffekt der Aufhellung durch Obermediantik symbolisch auf die Lichtexistenz Gottes bezieht. Ferner das Walhall-Motiv des Rheingold: in der Wendung Ges-Dur zu B-Dur, die einen Eindruck von göttlicher Stärke und Macht vermitteln soll [14]. Späte Beispiele analoger Bedeutungsebenen gibt es noch bei Richard Strauss, wohl einem der genauesten Kenner semantischer Besetzungen von Tonmaterial aus dem 18. und 19. Jahrhundert: etwa bei Elektras Begegnung mit der gottähnlichen Erlöserfigur Orest [15], oder in Salome, in deren erster Szene der eingekerkerte Jochanaan seinen Gott mit: “Nach mir wird Einer [As-Dur] kommen, der ist stärker [C-Dur] als ich” prophezeit [16].)

Eine Übertragung dieses semantischen Gehaltes auf Instrumentalmusik erscheint zwar nicht umstandslos möglich. Medianten meinen zum Beispiel in Scherzo-Sätzen nur ein Moment der `Überraschung´, und harmonische Terzrelationen in schnellen Sätzen tendieren zu anderen Bedeutungen als solche in langsamem Tempo. Doch fehlt es durchaus auch in Instrumentalwerken, selbst denjenigen Beethovens, nicht an Fällen, in denen ein analoger tonarten- und klangsymbolischer Hintergrund zumindest aufscheint. Ein Element erhabener Vollgriffigkeit wird man bereits Beethovens Klaviersonate op. 106 (Kopfsatz) – B-Dur zu D-Dur – nicht bestreiten:

Nb. 2.: Beethoven Klaviersonate op. 106, Satz 1, T. 37:

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Spezifischer mit der Vorstellung von Göttlichkeit (ohne daß eine programmatische Absicht erkennbar wäre) verbindet sich Mediantik in derKlaviersonate op. 53 (Satz 1), deren Exposition eine Relation C-Dur/E-Dur (nicht, wie üblich, C-Dur/G-Dur) zwischen Haupt- und Seitenthema zugrundeliegt; die intendierte Wirkung wird daran kenntlich, daß das zweite Thema (T. 35) choralartig gehalten ist. Die genannten Beispiele mögen sich zahlenmäßig gering ausnehmen, doch sollte man bedenken, daß Mediantik insgesamt (also auch deren Bedeutungsschichten) bei Beethoven noch nicht zum selbstverständlichen harmonischen Vokabular zählte.

Die Mediantik C-Dur zu As-Dur, in langsamem Tempo und unter Einschluß der Weihe-Tonart Beethovens, rückt auch für das Largo aus op. 7 eine Deutung im Sinne von Göttlichkeit, mindestens Erhabenheit, in den Bereich des Denkmöglichen. Denn hinzu tritt in Beethovens Komposition gar noch der Topos des Mediantenpendels, der Unter- und Obermediantik in Beziehung setzt [17]. Beethoven integriert seiner Weihe-Tonart As-Dur das ursprüngliche Tonartenfeld C-Dur (T. 29), läßt die harmonische Progression also zurückschwingen. Der C-Dur-Akkord in T. 29 tritt syntaktisch akzentuiert, nämlich als Beginn des zweiten Achttakters innerhalb des B-Teiles ein, ist daher nicht als bloße Zwischendominante zu f-Moll im nächsten Takt erklärbar. Das Verhältnis erzeugt harmonische Lichtwirkung, die im 19. Jahrhundert (und im Kontext der Propaganda- und Filmmusik unserer Tage auch noch bis heute) partiell zum Symbol der Schau des Göttlichen avancierte: etwa im mystischen Lichtspiel der Parsifal-Gralsakkorde, welches nach der Regieanweisung den Vorgang des Dunkelwerdens im Sakralraum und die Helligkeit nach dem einfallenden göttlichen Licht symbolisieren soll (nach Titurels “O heilige Wonne, wie hell grüßt uns heute der Herr!”):

Nb. 3.: Wagner Parsifal, 1. Aufzug, Kl. A. S. 91, System 2 und 3 (harmonischer Auszug):

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Dieser Vorgang faßt die Symbolik des Widerspieles von Dunkelheit und Licht in sich, wie sie schon mittelalterliche Sakralbauten kannten: Licht, das in die dämmerige Tiefe dringt, galt von je als jenseitsverkündend, harmonische Effekte mit ähnlicher Wirkung mitunter ebenfalls. Anscheinend zog man im 19. Jahrhundert aus solchen Konstellationen musikalisch-semantische Konsequenzen, und rückblickende Interpretation sollte dies für das Verstehen auch der früheren Stadien der Entwicklung zumindest in Betracht ziehen – dies umso mehr, als sich ähnliche harmonische Progressionen mit außermusikalischer Besetzung schon bei Beethoven selbst einfinden: Das erwähnte Gellert-Lied op. 48 Nr. 4 beschreibt einen harmonischen Pendel, obgleich G-Dur bei “göttlich Wort” (T. 17/18) nicht eindeutig und nach dem Ausgreifen nach Es-Dur der Klang bei “(unzählbare) Sterne” (T. 23) offenkundig ein G-Septakkord ist [18].

An dieser Stelle der Überlegungen sei einem möglichen Mißverständnis sogleich vorgebeugt. Die Deutung der tonartlichen Relationen im Sinne von Göttlichkeit kann für sich betrachtet nicht den Anspruch einer gesicherten Erkenntnis erheben, selbst die Existenz der benannten Parallelbeispiele ändert daran im Prinzip wenig. Dreiklänge im Terzabstand symbolisieren in der Musik des 19. Jahrhunderts nämlich durchaus nicht nur das Göttliche bzw. Jenseitige, sondern auch eine Vielzahl anderer Vorstellungen, so etwa des Entfernten, des Unbewußten oder des Schlafes (Untermediantik), auch der Kraft oder Macht, der `Erkenntnis´ oder Inspiration (Obermediantik). Die Beispiele der Verknüpfung von Medianten mit dem symbolischen Hintergrund `Gott´, `das Göttliche´ erlauben noch kein abschließendes Urteil, sondern nur – im hermeneutischen Sinne – ein Vorverständnis. Arnold Schering hätte sich in diesem Stadium der Reflexionen sicherlich auf die Suche nach einem `Schlüssel´ für die Beethovensche Musik begeben. Richtiger aber wäre es, nunmehr den Kontext des (vermuteten) Klangsymbols zu prüfen. Allein dieser vermag, wenn überhaupt, die Triftigkeit oder zumindest die Wahrscheinlichkeit der Interpretation zu erweisen.

Zweierlei `stört´ den musikalischen Weihezustand, der im B-Teil mit As-Dur anhebt. Beethoven komponiert zum einen eine fast permanente staccato-Begleitung, die im Unterschied zu anderen As-Dur-Partien Beethovenscher Werke dem musikalischen Fluß eine gewisse Schärfe beimischt. Die Divergenz enthüllt sich, sobald man den Mittelsatz der Klaviersonate op. 13(As-Dur) als Vergleichsobjekt heranzieht. Zum anderen irritiert die interne Chromatik und Modulatorik des Formteiles. Sollte die Versunkenheitsebene des B-Abschnitts eine Art `Jenseits´ meinen, dann wäre es fraglos verfremdet: `belastet´ mit der musikalischen Erbschaft des staccato aus T. 20-21, durchwirkt von schweifend-chromatischen Linien in der Oberstimme. Beethovens Chromatik – Baßchromatik wie T. 3-5, 37ff und vor allem 86ff, und aufsteigende Chromatik wie T. 18, 26f oder 34ff – bedarf vordringlich der Interpretation. Traditionell verbindet sich Chromatik als Lamento-Topos (Passus duriusculus) mit dem Affekt des Leidens, auch der Sehnsucht. Indes, ob der nachbarocke Einsatz von Chromatik als musikalisches Bedeutungselement wirklich aus dieser rhetorischen Figur ableitbar ist, erscheint höchst zweifelhaft. Doch ist die Frage nach der Herkunft in diesem Falle sekundär gegenüber dem Problem der semantischen Besetzung: denn daß Chromatik auch noch (und gerade) im 19. Jahrhundert `Leiden und Sehnsucht´ meinen konnte, dürfte unbestreitbar sein. Auch bei Beethoven steht nicht der potentielle Symbolgehalt chromatischer Wendungen in Frage, sondern ob diese auch im besonderen Fall des Largo aus op. 7 ihren Status als Bedeutungsträger bewahren, zumal in der Gattung der Klaviersonate. Hinweise hierfür scheinen sich geradezu aufzudrängen: Der Beginn der Klaviersonate op. 81a (Les adieux) kombiniert Hornquinten und chromatischen Baßgang als Klangsymbole für Ferne und Trennungsschmerz, in zweifelsfrei programmatischer Absicht (Satz 1, T. 1-4). Und in der Pathétique op. 13 – einer Klaviersonate in zeitlicher Nähe zu op. 7 – komponiert Beethoven das Pathos gar in einer aufsteigend chromatischen Sehnsuchts-Wendung, die den Beginn des Tristan vorausahnen läßt (Satz 1, T. 7/8). Die genannten Parallelstellen chromatischer Stimmführung entfalten allerdings, anders als in op. 7, ihren Symbolgehalt nur im Verbund mit Molltonarten, und außerdem verweist der Gebrauch von Chromatik weder bei Beethoven noch bei anderen Komponisten grundsätzlich in den Lamento-Bereich.

Für eine Abwägung in der Frage, wie es in Beethovens op. 7 um die Bedeutung der Chromatik bestellt sei, sollte daher erneut der Kontext dienlich sein. Die erste Baßchromatik des Satzes entwickelt sich im Umfeld der harmonisch spannungsvollen diastematischen Bruchstückhaftigkeit ab T. 3 (Baßstimme: [g]-fis-f-e); im B-Teil erhebt sich Chromatik erstmals `störend´ aus dem As-Dur-Beginn, welcher mit es-as-as-g (bei Vorhaltswirkung des zweiten as als Quarte über der Dominante) einer melodischen `As-Dur´-Vorstellung Beethovens entspricht [19. Für das Largo ergibt demnach das Zusammenbestehen von Chromatik und harmonischen Öffnungen bzw. syntaktischen Irregularitäten einen zusätzlichen Beleg für die Intentionalität der Chromatik als Leidens- und Sehnsuchts-Motive. Anders gesagt, Chromatik gerät immerhin in den Umkreis musikalischer `Negativität´. Der Kontext des Disparaten, Brüchigen, andererseits des Anklangs ans Erhabene deutet im Falle der Chromatik T. 26ff vielleicht auf ein Verlangen nach dem Göttlichen, mit T. 3-5 dagegen auf ein Leiden oder Ungenügen an dessen Gegensatz, dem zunächst Gegebenen. Auch hierbei aber handelt es sich, wie bereits bei der Frage, was Beethovens Mediantik besage, lediglich um ein Vorverständnis.

Der B-Teil wird in T. 37 brüsk unterbrochen: mit einem Halbschluß, der die anderen Dominantwirkungen dieses Satzes dadurch in den Schatten stellt, daß er im eigentlichen Sinne ein harmonischer Frage-Topos ist (alterierte Wechseldominante-Dominante in der Tradition auskomponierter Fragesätze). Da er den B-Teil beschließt, scheint er zu besagen: Was hat nun die Schau des `ganz Anderen´, der Gegenwelt erbracht? Welche Konsequenzen zeitigt der Blick ins `Jenseitige´? Und vor allem: Wie ist er mit dem Bisherigen zu vereinbaren, d. h. musikalisch zu vermitteln?

Beethoven sucht in der Tat von jetzt an – mit der Ausnahme eines Großteiles der konventionellen Wiederholung des A-Teiles ab T. 51 – Wege der Vermittlung, sozusagen der Vereinbarung der beiden Welten durch die Hereinnahme der abseitigen in die ursprüngliche. Dieser Vorgang vollzieht sich zunächst in einer Ausweichung nach B-Dur über chromatischem Baßgang (T. 42) – eine Scheinreprise des Hauptthemas in B-Dur, welche sich aber auch als tonartenzyklische Annäherung von As-Dur (der Haupttonart des B-Teiles) nach C-Dur interpretieren läßt, indem sie zwischen beiden Tonartensphären genau die Mitte hält. Letzteres aber erscheint alles in allem nicht so wesentlich: Beethoven selbst nimmt diesen Neuansatz in einer `furchtbaren´ Brechung eines verminderten Septakkordes zurück (T. 47-49). Erst der Schlußteil des Satzes darf, wie bereits auf rein strukturanalytischem Wege ermittelt, als Synthese bezeichnet werden. Zunächst führt Beethoven das As-Dur-Material aus T. 25 nach C-Dur herüber (T. 74). Dessen Melodik und variative Umgestaltung (T. 75-76) mündet dann, dringlicher als je, in einem harmonischen Frage-Topos aus (T. 77/78) – was hat die Schau der ganz andersartigen Sphäre gebracht, welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Hereinnahme? Die Antwort gibt T. 79, mit der Mutation des A-Materials und der Elimination der harmonischen Öffnung: eine Verwandlung – Verwandlung des Gegebenen, gleichsam C-Dur-`Diesseitigen´ und, was die Glättung der harmonischen Spannungen anbelangt, eine Art `Beruhigung des Willens´, wie sie später Schopenhauer der Musik überhaupt zuschreiben sollte. (Auch sei daran erinnert, daß Beethoven schon ab T. 74 die vormals ostentativ im Diskant hervorgekehrte Spannungschromatik durch einen motivischen Prozeß überformt, der die ursprüngliche Spannung abmildert.) Nicht zufällig läßt Beethoven (T. 84) reine musikalische Gelöstheit folgen, wie sie sonst im gesamten Satz nicht vorkommt. Erst dann kehrt er (T. 86) mit Baßchromatik und Pausendisposition in die ursprüngliche Sphäre zurück.

Im Kontext dieser `Erlösungsmusik´ des Schlußteiles, der Befreiung von Pausen-Zersetztheit und angesammelter Spannung, schließt sich denn auch der hermeneutische Zirkel in bezug auf die Frage nach der semantischen Besetzung des B-Teiles, seiner Mediantik und Chromatik. Er entwickelt das Vorverständnis zu einem Verständnis fort und erlaubt zuverlässigere Interpretationen. Mit der abseitigen As-Dur-Sphäre dürfte in der Tat Gott oder das Jenseits selbst gemeint sein. Die Musik des A-Teiles wäre dann Symbol des menschlichen Leidens und Suchens, auch seines Ungenügens an hergebrachter Gottesanbetung (T. 5-8, destruiert in T. 20ff) – man denke an Beethovens Verhältnis zur Amtskirche -, der Mittelteil aber spiegelt das unmittelbare Suchen des Menschen nach Gott, sein Verlangen nach ihm, auch seine Einsamkeit (T. 38 und 40/41: Schleiferfiguren in entfernt hoher Lage) und Verfallenheit an das Leiden (T. 38ff). Denkbar wäre sogar, die staccato-Begleitung der linken Hand als musikalische Erbschaft jener destruierenden Staccato-Effekte aus T. 20ff zu betrachten und in ihnen daher, wie vielleicht auch im Frage-Topos T. 37 mit anschließendem Zusammenbruch, ein Symbol für den menschlichen Zweifel an Gott zu erblicken. Und von dort aus erscheint selbst die Modifikation des A´-Teiles ab T. 73, welche die Stagnationswirkung der Tonrepetition aus dem entsprechenden Takt T. 23 in eine Quartsextakkord-Wendung mit vorgeschalteter alterierter Zwischen-Dominante umwandelt (eine Wendung, die im 19. Jahrhundert vielfach für `Befreiung´, `Durchbruch´, ja `Erlösung aus dem Leiden´ steht), in einem neuen Licht.

Der Vorgang des Hineinnehmens und Assimilierens der `anderen Welt´ As-Dur durch C-Dur, verbunden mit der Tendenz zur motivischen Synthese, scheint demnach keineswegs nur materiale Dimensionen zu besitzen. Möglicherweise enthält dieser langsame Satz eine im weitesten Sinne religiöse Botschaft: die Schau des Abglanzes einer `anderen Welt´, die, indem sich der Mensch ihrer bewußt ist, bereits zu einem Stück diesseitiger Wirklichkeit wird, Manifestation des Beethovenschen Glaubens an einen jenseitigen Schöpfergott wie auch der Absage an konventionelle Frömmigkeit [20], musikalische Ausformung des Erhaben-Göttlichen, dessen Existenz die gesamte Welt in einem anderen Licht erscheinen läßt und jene Gemütsruhe schafft, die auch dem Leiden standhält. Zwar bleibt die diesseitige Wirklichkeit letztlich eine des Schmerzes und des Ungenügens (die Schluß-Baßchromatik weist darauf hin), doch ist sie durch die Berührung mit dem Außerweltlichen eigentümlich verwandelt. Analog der Arie des Florestan, dessen zugehörige Musik nach einem utopischen Blick in die jenseitige Sphäre (das himmlische Reich) ebenfalls in die Finsternis des Kerkers zurückkehrt, die dann aber doch nicht mehr ganz die gleiche wie vorher ist, negiert das `diesseitige´ chromatische Schlußwort nicht mehr die Realität des unfaßlich Andersartigen, der Transzendenz.

Hermeneutik auf der Basis von Topos- und Symbolforschung zu betreiben, kann demnach durchaus zu weitreichenden Ansichten des Verstehens führen. Die Methode erteilt weder die Erlaubnis zur subjektiven Spekulation, noch entspricht es ihren Zielsetzungen, zu leugnen, daß die betreffenden Werke meist auch für sich genommen, als rein musikalische Sinnzusammenhänge, sinnvoll rezipierbar sind. Ebensowenig besagt sie, daß es triftig wäre, jedwede instrumentale Musik programmatisch zu deuten. Sie bestimmt Beethoven im Falle des langsamen Satzes aus seiner Klaviersonate op. 7 im übrigen nicht als Programmusiker, sofern damit speziell Handlungselemente verbunden werden, sondern eher als Ideen-Musiker, der Musik als Medium benutzt. Das Verfahren, Auslegung von Instrumentalmusik unter dem Primat der Toposforschung – ohne schriftliche Zeugnisse bzw. andere Hinweise von seiten des Komponisten – zu betreiben, setzt eine gewisse Gunst der Umstände voraus: daß Klangsymbole und andere musikalische Ausdrucksträger innerhalb des Einzelwerkes in genügend großer Anzahl und Dichte vorhanden sind, so daß sie sich gegenseitig stützen können. Jenseits bloßer Strukturanalyse, jedoch auch ohne zu den Prinzipien der älteren musikalischen Hermeneutik bzw. den Auslegungsmethoden Arnold Scherings zurückkehren zu wollen, ist es demnach um ein hermeneutisches Verfahren zu tun, dessen Ergebnisse – wiewohl nicht immer restlos abzusichern – doch so weit objektiviert sind, daß sich die Methode selbst als gangbarer Weg für das Verständnis der betreffenden `absoluten Musik´ erweist.


Benutztes Notenmaterial:

Beethoven, Ludwig van Klaviersonate op. 7 Es-Dur, Satz 2

Strauss, Richard Salome. Musikdrama in einem Aufzuge nach Oscar Wilde´s gleichnamiger Dichtung. Musik von Richard Strauss op. 54, Klavierauszug mit deutsch-englischem Text von Otto Singer, Fürstner Ltd.

Strauss, Richard Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal (Musik von Richard Strauss) op. 58, Klavierauszug mit Text von Otto Singer, Fürstner Ltd.

Wagner, Richard Das RheingoldKlavierauszug mit Text von Felix Mottl, Frankfurt-London-New York: Peters.

Wagner, Richard Tristan und IsoldeKlavierauszug mit Text von Felix Mottl und Gustav F. Kogel, Frankfurt-London-New York: Peters.

Wagner, Richard ParsifalKlavierauszug mit Text von Felix Mottl, Frankfurt-London-New York: Peters.

Weber, Carl Maria von Der Freischütz. Romantische Oper in drei Aufzügen(Klavierauszug, hrsg. Kurt Soldan), Frankfurt-London-New York; C. F. Peters.


Anmerkungen:

[1] So Hans Pfitzner zur Hermeneutik seiner Zeit, Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz, Gesammelte Schriften II, Augsburg: Filser, 1926, S. 153.

[2] Carl Dahlhaus, in: ders. (Hrsg.) Beiträge zur musikalischen Hermeneutik, Regensburg: Bosse, 1975, S. 7.

[3] So Siegfried Mauser, Gernot Gruber, in: dies. (Hrsg.) Musikalische Hermeneutik im Entwurf. Texte und Diskussionen (Schriften zur musikalischen Hermeneutik, Bd. 1), Laaber: Laaber, 1994, S. 7.

[4] Hierzu die Schriften von Constantin Floros, vor allem Musik als Botschaft, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1989.

[5] Dies im Gegensatz zu Scherings Meinung, der in der Klaviersonate op. 10 Nr. 3 eine Manifestation der vier Temperamente erblickte: Beethoven in neuer Deutung, Leipzig: Kahnt, 1934, S. 63: 1. Sanguiniker, 2. Melancholiker, 3. Phlegmatiker, 4. Choleriker.

[6] Stefan Kunze (Hrsg.) Ludwig van Beethoven. Die Werke im Spiegel seiner Zeit. Gesammelte Konzertberichte und Rezensionen bis 1830, Laaber: Laaber, 1987, S. 15.

[7] Paul Bekker Beethoven, Ausgabe Stuttgart-Berlin, 1922, S. 127.

[8] Zum Beispiel die Beethoven-Monographie von Carl Dahlhaus: Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber: Laaber, 1987.

[9] Jürgen Uhde Beethovens Klaviermusik. Bd. 2 Sonaten 1-15, Stuttgart: Reclam, 1970, 4. Aufl. 1990.

[10] Dahlhaus Beethoven, S. 147-49.

[11] Aus solchen Formzusammenhängen rekonstruierte Dahlhaus diese“vergessene Formidee”: das Verfahren, dem des `musikalischen Prozesses´ entgegengesetzt, welches ursprünglich Separiertes erst nachträglich aufeinander bezieht; Dahlhaus Beethoven, S. 199ff.

[12] Bernard van der Linde Die Versunkenheitsepisode bei Beethoven, in: Beethoven-Jahrbuch IX (1973/77), S. 319-337. Versunkenheitsepisoden komponiert Beethoven zwar nicht nur im Mediantenabstand; beliebt sind bei ihm auch Rückungen in die chromatische Obersekunde, nicht selten sogar kurz vor Schluß des Werkes. Indes sind auch die mediantischen Tonartenfelder involviert.

[13] Hierzu Norbert J. Schneider Mediantische Harmonik bei Ludwig van Beethoven, in: Archiv für Musikwissenschaft 35 (1978) S. 210-230; insb. S. 225ff.

[14] Richard Wagner Rheingold, 2. Szene, T. 9, Kl. A. S. 64, 3. System; die Regieanweisung verknüpft diesen harmonischen Effekt mit dem lichthaft anbrechenden Tag, der die Macht der Götter erstrahlen läßt.

[15] Nach d-Moll B-Dur und Ges-Dur, unter feierlichem tiefem Blechbläserklang: Elektra, Kl. A. S. 166, bei Ziffer 123a.

[16] Richard Strauss Salome, Kl. A. S. 11, bei Ziffer 12.

[17] Weicht man von einer Tonart in die Großterz-Dur-Untermediante aus, so präsentiert sich, von dort aus gerechnet, der ursprüngliche Klang natürlich wieder als Obermediante. Der Ausgangsakkord bleibt demnach beim mediantischen Rückpendeln nicht der gleiche, sondern er gewinnt an intensiver Leuchtkraft.

[18] Würde man der Interpretation des Mediantenpendels eine `energetische´ Theorie zugrundelegen, wie sie Ernst Kurth entwickelte, so dürfte es nicht so sehr auf die beteiligten Klänge, sondern auf deren Strebungen durch Großterz-Leittönigkeit ankommen. Das anzunehmende G-Dur bei “göttlich Wort”enthielte den Leitton h, der im Zuge des harmonischen Pendelns nach b tief- und wieder nach h hochalteriert wird, so daß sich die Leittonspannung als Lichteffekt fühlbar macht, unabhängig davon, ob der erreichte Akkord ein Drei- oder Vierklang ist.

[19] Vergleiche Beethovens Klaviersonate op. 110, Beginn. Analoges komponiert noch Richard Wagner in Tristans und Isoldes Sterbelied (Liebestod); Kl. A. S. 191 und 314.

[20] Symbolisch: T. 5-8. Folgerichtig treten diese Takte in der Schluß-Synthese überhaupt nicht mehr auf.

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